A heavy, heavy duty – wo die Baumwolle liegt
Installation mit Ton, Booklet und Objekten
Schönau, Wetzikon, 2023
Installation mit Ton, Booklet und Objekten
Schönau, Wetzikon, 2023
Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Zeit des 1. Weltkriegs war das Zürcher Oberland bedeutender Standort für die industrielle Verarbeitung von Baumwolle und der Produktion von Baumwollstoffen. Als die Nachfrage nach Mousselinetücher, Kattuntücher und Indiennetücher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark stieg, nahm die Baumwollfabrikation im Zürcher Oberland eine ungeahnte Ausdehnung an. Die Fabriken verarbeiten den Rohstoff, der hauptsächlich aus dem von Grossbritannien kolonialisierten Indien stammte und auf dem Seeweg nach Europa gelangte, zu Textilien. Die Baumwollfabrikanten verkauften die hergestellten Stoffe gewinnbringend im lokalen aber auch internationalen Markt – mitunter wieder an die ausgebeuteten Kolonien selbst.
Die Spinnerei Schönau in Wetzikon war eine der Fabriken, die im Zürcher Oberland im grossen Stil Baumwolle verarbeiteten. Wie die umliegenden Fabriken hatte es sich aus der Verdrängung des händischen Spinnens am Spinnrad und des Webens am Webstuhl entwickelt. Diese Arbeit, die als Heimarbeit generationsübergreifend in den eigenen privaten Räumen verrichtet wurde, hatte im Laufe des 18. Jahrhundert ein grosses Wachstum erfahren und beschied der landlosen armen Bevölkerung die einzige Einnahmequelle. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war gut die Hälfte der Bevölkerung des Gebiets der Gemeinden Uster, Mönchaltdorf, Egg, Oetwil, Grünigen, Gossau, Wetzikon und Seegräben im Baumwollgewerbe beschäftigt. Die Industrialisierung der Baumwollproduktion veränderte diese Arbeit und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse rapide und führte lokal zu Aufständen.
Eingang zum ehemaligen Baumwollmagazin der Spinnerei Schönau in Wetzikon, heute Schönau Areal. Foto: Stefanie Knobel
Die Schönau feierte 2023 ihr 200 jähriges Bestehen. Das Jubiläum bot eine Gelegenheit, die Geschichte des ehemaligen Fabrikareals im Kontext der Zürcher Baumwollgeschichte kritisch und multiperspektivisch zu beleuchten und dabei sein Eingebundensein in globale Zusammenhänge aufzuzeigen. A heavy, heavy duty – wo die Baumwolle liegt trat dabei mit dem ehemaligen Baumwollmagazin des Fabrikareals in einen Dialog. Das freistehende Gebäude, das in naher Zukunft umgebaut wird, diente bis zur Stilllegung der Fabrik zur Lagerung der unverarbeiteten Baumwolle. Die Ausrichtung des Gebäudes an der Strasse, seine Fassade und die Ausgestaltung des Raumes zeugen von seiner ursprünglichen Funktion. Mit diesen Spuren und Reminiszenzen trat A heavy, heavy duty – wo die Baumwolle liegt in eine heimlich-unheimliche Verbindung: Die in der Arbeit evozierte Persona der Baumwolle aktiviert die Geschichten, die dem Gebäude eingeschrieben sind und verweist auf das, was heute abwesend ist: die schiere Menge an Baumwolle, die an diesem Ort auf ihre Verarbeitung wartete, aber auch auf die noch ausstehende Aufarbeitung der Ausbeutung sozial und ökonomisch marginalisierten Schichten in der vorindustriellen Heimarbeit oder unter dem strengen Regime der Fabrikarbeit und die Verstrickungen der Schweiz in den Kolonialismus.
Aussenansicht des Baumwollmagazins. Foto: Stefanie Knobel
Ausstellungsansicht A heavy, heavy duty – wo die Baumwolle liegt, 2023. Im Vordergrund zu sehen ist die Waage, die beim Wägen der Baumwolle eingesetzt wurde. Foto: Angela Wittwer
Die Installation ist der Versuch, bestehende Beziehungen zwischen dem Zürcher Oberland, Indien, dem Iran und Indonesien verhandelbar zu machen und neue, spekulative Beziehungen zu evozieren. Mithilfe von Assoziationen, Übergängen, Brüchen und Zusammenführungen bereitet die Arbeit eine Narration aus, welche die Baumwolle als Stellvertreter*in für ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse instituiert. Ein Booklet führt historische Verweise, Recherchen, Interviews, Tagebucheinträge und Notizen zusammen: vom Baumwolle produzierenden Lamm von Tartary (mit Ursprung im Nordiran), von Agrararbeiter*innen in Nagpur und Weber*innen in Shantipur und Lodikheda, Indien, von einem Textilproduzenten und -händler mit Geschäftsverbindungen in die Schweiz in Jakarta, Indonesien, von stillgelegten Textilfabriken im Zürcher Oberland, von der gewaltvollen Geschichte der Heimarbeit und von der ersten industriellen Spinnmaschine «Spinning Jenny». Stränge der globalen Baumwollproduktion verweben sich mit der Allgegenwärtigkeit synthetischer Stoffe und chemischer Substanzen. Eine Science-Fiction-Landschaft entwirft sich, in der Düngemittel, Kälteeis und Hormonpräparate Körper produzieren, optimieren, abtöten oder haltbar machen – oder sich zum Mittel des Widerstands einverleiben lassen. Zwischen dem Baumwollmagazin mit seinen vielen Geschichten und der mäandernden Erzählstimme von A heavy heavy duty – wo die Baumwolle liegt ereignet sich sowohl Intimes aber auch Widerständiges und Unerwartetes. Die in der Arbeit angelegte zukünftige Zeitachse, die Vergangenes mit Gegenwärtigem resonieren lässt, eröffnet eine erinnernde Aktualisierung kolonialer Verstrickungen der Schweiz im Rahmen einer ausgedehnten Textilgeschichte.
Ausstellungsansicht A heavy, heavy duty – wo die Baumwolle liegt, 2023. Im Bild zu sehen sind Sitzbänke, Decken und Neonleuchten. Fotos: Angela Wittwer
Das Baumwollmagazin ist baufällig und wird im Herbst 2024 teilweise abgebrochen. Ein Kulturzentrum mit Café soll in seinem Inneren entstehen. ??? Den Teilabbruch nehmen Stefanie Knobel und Angela Wittwer zum Ausgangspunkt für ein Gespräch mit Wetziker*innen, die auf vielfältige Weise mit der Schönau verbunden sind. Für mehr Informationen siehe hier.
Das Booklet zur Arbeit ist als Edition erhältlich.
Quellen
Reto Jäger, Max Lemmermeier, August Rohr: Baumwollgarn als Schicksalsfaden. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) 1750–1920, Zürich 1986.
Oscar Haegi: Die Entwicklung der zürcher-oberländischen Baumwollindustrie, Weinfelden 1925.
Christof Dejung: Die Fäden des globalen Marktes: Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Wien/Köln/Weimar 2013.
Mit freundlicher Unterstützung von: